Die wichtigsten Fragen zur Bundestagswahl
Digitalisierung
Was sind die großen Themen? Gemeinsam mit dem Recherchezentrum Correctiv beantwortet der reporter in einer siebenteiligen Serie bis zum 26. September die wichtigsten Fragen zur Wahl - kompakt und verständlich. Diese Woche: Digitalisierung.
Warum ist die Digitalisierung überhaupt wichtig?
Neue Erfindungen sind schon immer eng verbunden mit der Wirtschaft. Die ersten Schiffe ermöglichten Handelsbeziehungen und Wissensaustausch rund um den Globus. Und als Menschen vor circa 5.500 Jahren die ersten Räder erfanden, veränderte das schnell den Alltag. Wagenräder erleichterten die Ernte. Sie waren im Krieg ein entscheidender Vorteil und die Grundlage für weitere Erfindungen wie das Wasserrad.
Mit der ersten Dampfmaschine vor 250 Jahren begann die Industrialisierung. In kurzer Zeit veränderten sich Gesellschaft und Wirtschaft tiefgreifend. Vorher hatten die meisten Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet. Nun wurden sie zur Schichtarbeit in Fabriken gebraucht und zogen massenhaft in die Städte. Dampfschiffe und Lokomotiven wurden erfunden und transportierten so viele Personen, Rohstoffe und Waren wie nie zuvor. Die Umweltverschmutzung im großen Stil begann.
Experten gehen davon aus, dass der digitale Wandel unser Leben genauso stark wie einst die Dampfmaschine verändern wird. Bisher kommen die erfolgreichsten digitalen Unternehmen wie Amazon und Apple aus den USA und Asien. Wenn Deutschland weiter ein wichtiger Standort für Technologie und Export bleiben will, muss die Bundesrepublik international mithalten. Den weltweiten digitalen Wandel nicht mitzumachen, wäre wie auf das Rad zu verzichten.
Was sind die großen digitalen Baustellen im Land?
Bei Digitalisierung denken viele zuerst an das Internet. Schon 2014 verlangte der Bundestag, allen Haushalten innerhalb von vier Jahren einen 50-Mbit/s Internetanschluss zu ermöglichen. Das reicht für ein Paar, um Filme zu streamen und im Netz zu surfen. Doch bis heute haben knapp sieben Prozent der Haushalte noch immer keinen Zugang. Dabei ist das Ziel technisch längst überholt. Die schnellste Internetverbindung ist heute
mit Glasfaser möglich. Nach der letzten Bundestagswahl haben die Regierungsparteien sich deshalb als Ziel gesetzt, bis 2025 Glasfaser überall zu ermöglichen. Außer in Hamburg sind Glasfaserleitungen aber bisher in keinem Bundesland
flächendeckend verlegt. Schnelles Internet für alle bleibt also weiter eine große Baustelle in Deutschland.
Besonders weit hinterher hängt Deutschland mit der Digitalisierung außerdem in den Bereichen Verwaltung und digitale Bildung. Dass Bund, Länder und Städte dabei gemeinsam zuständig sind, sorgt immer wieder für Chaos und bremst die Entwicklung zusätzlich.
Was können wir von Anderen lernen?
Wenn man den digitalen Fortschritt der EU-Länder vergleicht, liegt Deutschland nur im Mittelfeld, obwohl es eines der wirtschaftlich stärksten Länder ist. Finnland, Schweden und Dänemark sind dagegen Spitzenreiter im Netz. Warum schneiden diese Länder so viel besser ab?
Wer digital leben und arbeiten will, braucht vor allem Fachkräfte. In Schweden sind zum Beispiel sieben Prozent der Beschäftigten IT-Spezialisten. In Deutschland sind es nur halb so viele. In skandinavischen Betrieben ist digitales Arbeiten längst alltäglich. Die Hälfte der finnischen Unternehmen arbeitet mit einer Cloud. Nur 12 Prozent sind es in Deutschland. Hierzulande schreiben Unternehmen auch noch viel öfter Briefe oder Faxe, statt Informationen auf elektronischem Weg auszutauschen.
Und in keinem Land der EU sind so viele der Bürger online wie in Dänemark. 95 Prozent surfen dort im Netz und fast jeder erledigt Überweisungen und Bankgeschäfte online. Online-Banking nutzen
dagegen in Deutschland bisher nur zwei von drei Bürgern.
Muss ich bald nie mehr ins Bürgeramt?
Während der Pandemie haben 95 Prozent der Städte ihre Öffnungszeiten für Bürger komplett oder größtenteils eingeschränkt. Oft blieb dann nur der Online-Service, der an vielen Orten, wenn überhaupt, nur eingeschränkt funktioniert. Denn die Digitalisierung in den Rathäusern hinkt seit Jahren hinterher. Eigentlich müssen bis 2022 alle Behördengänge online möglich sein. Das Auto anmelden, die Adresse nach einem Umzug ändern
und einen neuen Reisepass beantragen zum Beispiel. So steht es verpflichtend im Onlinezugangsgesetz. Doch das Ziel wird wohl nicht erreicht. Aktuell sind im Durchschnitt nur ein Viertel der Behördengänge online möglich.
Eine weitere Bremse: Viele Menschen begegnen den neuen Möglichkeiten eher skeptisch. Schon seit elf Jahren kann man sich mit dem Personalausweis auch im Netz ausweisen. Aber nur sechs Prozent haben das schon mal ausprobiert. Ab
Herbst soll es dann sogar möglich sein, sich nur mit dem Smartphone auszuweisen. Doch auch in diesem Fall scheitert es wahrscheinlich erstmal an der Umsetzung. Selbst unter den neuesten Handy-
modellen haben nur die wenigsten die notwendige Technik eingebaut. Die Geldbörse ganz zu Hause zu lassen oder alles einfach online zu erledigen, wird also erstmal eine Zukunftsvision bleiben.
Ist Digitalisierung nicht eher schlecht für uns?
Nicht alle profitieren vom digitalen Wandel gleichermaßen. In den vergangenen Monaten hat sich besonders deutlich gezeigt, dass arme Menschen schon beim Zugang zum Internet nicht dieselben Chancen haben. Erst seit Februar 2021
übernimmt der Staat für Kinder armer Familien die Kosten für Laptops, Tablets und einen Drucker für den Online-Unterricht. Vorher mussten Familien das Geld oft erst vor Gericht erstreiten und es wurde nur in Ausnahmen gezahlt. Auch an vielen Schulen ist das Internet noch nicht angekommen. Nur an der Hälfte gibt es WLAN für die Schüler. Für digitale Bildung sind Bund und Länder gemeinsam zuständig. Deshalb kann die neue Bundesregierung nur zum Teil etwas än-dern, indem sie zum Beispiel zusätzliche Förderprogramme startet.
Allgemein gilt: Von der Digitalisierung profitieren Hochqualifizierte in größerem Maße. Sie können sich die notwendigen Geräte kaufen und ihre Jobs sind meist nicht so schnell durch Computer und Maschinen zu ersetzen. Den digitalen Wandel gerecht zu gestalten, wird deshalb eine der zentralen Aufgaben der nächsten Regierung. (red)
*Correctiv ist ein gemeinnütziges Medium und steht für investigativen Journalismus. Die vielfach ausgezeichnete Redaktion deckt systematische Missstände auf, prüft Falschmeldungen im Netz und fördert Medienkompetenz mit eigenen Bildungsangeboten. Sorgfältig recherchierte Informationen stärken öffentliche Debatten und geben Orientierung im Wahlkampf.