Ireen Nussbaum

Menschen erzählen ihre Geschichte: Anneliese Stange über ihre Flucht aus Ostpreußen

Scharbeutz. Es war im Oktober 1944 als die Rote Armee erstmals nach dem Ersten Weltkrieg Ostpreußen überrollt und Anneliese Stange, geboren am 10. November 1935 auf Gut Brakupönen, Kreis Gumbinnen, zum Flüchtling wurde. Mit acht Jahren ist sie aus ihrer Heimat vertrieben worden. Eine Zeit, die die Scharbeutzerin nachhaltig geprägt hat.
 
Es begann am 22. Oktober 1944, als die Gutsführung den Befehl zur Flucht gab. Ihr Vater Otto Bieber war bereits mit Kriegsbeginn zum Militär eingezogen worden. „Wir saßen auf einem Leiterwagen mit fünf Familien und unseren Kleidersäcken. Mein Großvater Karl Mein fuhr den vierspännigen Wagen. Das ganze Dorf folgte im Treck mit circa 10 bis 12 Pferdewagen. Maschinengewehr- und Panzerschüsse begleiteten uns“, erinnerte sich das einstige Kriegskind.
 
Die Fahrt führte bis kurz vor Insterburg und am nächsten Bahnhof ging es mit dem Zug weiter nach Liebemühl, Südostpreußen. Dort lebte die Familie drei Wochen, mit der Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat. Doch die Front rückte unaufhaltsam näher, sodass Anneliese Stange, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Heinz und ihre Großeltern den nächsten Transport nach Stolp, Pommern bestiegen.
 
Die Flucht führte mit einem offenen Lorenzug Anfang März 1945 weiter Richtung Gotenhafen. „Bei starkem Schneetreiben mussten wir mit 12 weiteren Zügen auf freier Strecke ausharren. Das 2. Gleis wurde für die Wehrmacht freigehalten. Als ein Wehrmachtszug kam, um Wasser zu tanken, bestürmten die Frauen die Soldaten, woraufhin wir neun Kilometer bis Lauenburg, Pommern mitgenommen wurden“, so die Heimatvertriebene. Von Lauenburg ging es nach Gotenhafen. Hier sollte die Familie in ein Lager untergebracht werden. Sie entschied sich dagegen und blieb auf dem Bahnsteig sitzen. „Abends zog ein Bahnbeamter vorüber, der uns beim Schinkenessen zusah. Gegen ein Stück Schinken brachte er uns auf Strohlager in einer Bahnmeisterei unter. Fortan lebten wir ausschließlich auf dem Bahngelände, welches ständig bombardiert wurde. Was wir nicht wussten war, dass auf den Gleisen ein mit Munition beladener Zug stand - bis er beschossen wurde und wie ein gewaltiges Feuerwerk explodierte“, blickte Anneliese Stange zurück. Das Bahnhofsgebäude fing Feuer. Die Leute retteten sich aus dem Rauch und den Flammen. Nur die Neunjährige blieb zurück. Sie versuchte einen eingeklemmten Rucksack, um den sie sich kümmern sollte, zu befreien. Nachdem sie ihn hervor gezerrt hatte, brannte der Hauseingang bereits lichterloh. Durch einen Notausgang im Keller konnte sie sich schließlich befreien.
 
Ohne ein Dach über dem Kopf versuchte die Familie vom Hafen über die Ostsee mit Kriegsschiffen in den Westen zu gelangen, doch bei allen Schiffen waren die Kapazitäten zur Überfahrt vergeben. Lediglich für Frauen mit Kleinkindern gab es noch Karten. Also log die Tante. Doch für das angegebene Baby gab es keine Schiffskarte, sodass der Familie eine fehlte. „Irgendwie schaffte es meine Tante meinen Opa auf das Schiff zu holen“, erinnerte sich die Scharbeutzerin und ergänzte: „Während das Schiff im Hafen lag, wurde es von den Russen mit Geschossen vom Stadtrand befeuert. Im Schutze der Dunkelheit legte es dann ab und fuhr aufs Meer hinaus. Der Beschuss ließ nach. An Bord waren 5.000 Menschen, davon 2.500 schwerstverwundete Soldaten und 2.500 Flüchtlinge. Die Schwerstverletzten starben unaufhörlich und wurden von der Besatzung ins Meer geworfen. Nach drei Tagen legte es in Warnemünde an. Die restlichen Verletzten kamen in Lazarette und die übrigen Passagiere wurden in bereitgestellte Züge untergebracht. „Der Zug, den wir bestiegen, führte uns nach Bad Schwartau. Hier übernachteten wir und wurden anschließend mit Lkws nach Pönitz und in andere Orte gefahren. Von Pönitz ging es für die Flüchtlinge zu den Bauern auf die Dörfer. Meine Familie kam nach Scharbeutz“, erklärte Anneliese Stange, die zunächst mit ihrem Bruder Heinz sowie ihrer Mutter und ihren Großeltern im Kinderheim „Felicitas“ in Scharbeutz/Lindenallee in einem 12 Quadratmeter großen Dreibettzimmer wohnte. Vater Otto kam im November 1945 vorzeitig aus Kriegsgefangenschaft, da er schwer erkrankt war.
 
Er trat seine erste Stelle beim Bauern Hoffmann, dem der Wennhof gehörte, an.
 
Das Land Schleswig-Holstein verpachtete Flächen an Flüchtlinge. Um überleben zu können, bewirtschaftete Otto Bieber ein dreiviertel Hektar Land. (inu)
 
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