

Ein Foto im Internet: Es zeigt Ella im Indianerkostüm mit buntem Federschmuck auf einem braun-weiß-gescheckten Pony. Die Sechsjährige stemmt beide Hände stolz in die Hüfte und lächelt glücklich in die Kamera. Ihr Haar trägt sie sehr kurz, vermutlich wurde das Foto aufgenommen, als sie bereits an einem Hirnstammtumor erkrankt war. Vielleicht im Frühjahr. Wenige Monate später, im Herbst, ist Ella tot.
Das Foto und viele Erinnerungen aus Ellas Leben hat die Mutter veröffentlicht. Auf einem Trauerprofil, auf dem die Eltern täglich ihrer Tochter gedenken, Verwandte und Bekannte ein #WirVermissenDich posten oder Unbekannte eine mitfühlende Botschaft hinterlassen können.
Es mag befremdlich klingen, aber Online-Trauer ist ein Trend. Und zwar kein neuer. Seit vielen Jahren schon ist das Internet ein Ort zum Gedenken. Wo es Trauerportale gibt, die weit über die Veröffentlichung von Todesanzeigen hinausgehen. Wo Hinterbliebene mit Fotos, Videos und digitalen Kerzen an ihre Verstorbenen erinnern. Wo jeder auf virtuellen Friedhöfen gezielt nach dem Namen alter Schulkameraden suchen und die Kondolenzfunktion nutzen kann. Wo Familien das Facebook-Profil eines Verstorbenen in den sogenannten Gedenkzustand versetzen und es als Plattform zum Erinnern nutzen. Wo Eltern von Sternenkindern in Chats und Blogs Trost suchen und ihren Schmerz teilen. Wo auf sozialen Netzwerken millionenfach traurige Emojis oder Kommentare gepostet werden, wenn Prominente sterben oder Menschen Opfer von Anschlägen werden. Und wo mit „The World Wide Cemetery“ schon seit 1995 einer der ältesten virtuellen Friedhöfe der Welt online ist. Sein Gründer, der kanadische Internetpionier Michael Stanley Kibbee hatte eine Vision: Erinnerungen an Verstorbene zu hinterlassen, die zu jeder Zeit an jedem Ort zugänglich sind.
Auch die evangelische Kirche bietet seit 2015 unter trauernetz.de Gedenkseiten, Chat-Andachten, Gebete und Meditationen an. Doch kann virtuelles Gedenken in der Trauer helfen? Allenfalls als Ergänzung, meint Propst Dirk Süssenbach vom Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Ostholstein: „Meiner Erfahrung nach ist es zuallererst der persönliche Zuspruch, der wirklich Trost spendet. Es geht für Trauernde nicht nur um Worte des Mitgefühls, sondern vor allem um echte Nähe.“
Auch Margarita Hüpping vom Trauercafé des Vereins Beistand am Lebensende in Neustadt ist sich sicher: „Den persönlichen Kontakt kann das Internet nicht ersetzen.“ Die Trauerbegleiterin setzt darum weiter auf den direkten Austausch von Mensch zu Mensch, zum Beispiel bei den regelmäßigen Treffen im Trauercafé oder beim gemeinsamen Trauerwandern. Erfahrungen mit Menschen, die ihre Trauer im Internet darstellen, habe sie vor Ort noch nicht gemacht. Allerdings hätten es Hinterbliebene oft schwer in einer Gesellschaft, die sprachlos und hilflos auf Themen wie Tod und Trauer reagiere. „Es wird erwartet, dass man seine Trauer möglichst schnell überwindet“, so Hüpping. Diese beunruhigende Einschätzung unterstreichen auch die Forschungskriterien der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft: Deren Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen DSM-5 (das in der Kritik steht, aber ebenso als Wegweiser gilt) stuft intensive Trauer, die länger als zwei Wochen anhält, bereits als Depression ein. Deren „Genesung kann durch Behandlung mit Antidepressiva beschleunigt werden“, heißt es dort.
Wer tiefe Trauer erlebt hat, der weiß: Sie kann einen für lange Zeit aus der Bahn werfen. Wenn sie also abseits von Seelsorge und Trauerbegleitung keinen Platz im Alltag hat, dann klingt es vielleicht doch nicht mehr so befremdlich, wenn sich Trauernde zunehmend auf den Weg ins anonyme Netz machen. Dorthin, wo es mit weinenden Emojis und manch unpassendem Kommentar oft oberflächlich zugeht, aber wo Trauer wenigstens keine Krankheit und der Tod kein Tabuthema ist. (he)
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Tipps zum Umgang mit dem digitalen Erbe.
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