

Neustadt. „Werde ich heute gefragt, was das Schlimmste war,
was mir in den dunklen Jahren meiner fünfjährigen Via Dolorosa während der
NS-Besatzung widerfahren ist - war es der ständige Hunger, die Schläge, die
Gefahr, in die Gaskammer geschickt zu werden?, so sage ich: Das Schlimmste war
die Entmenschlichung. Ich gehörte den Nazi-Gesetzen zufolge nicht mehr zur
menschlichen Rasse, wurde behandelt wie ein Insekt, eine Kakerlake, die jeder
töten konnte - jede Stunde, jede Minute. Ich verlor meine menschliche Identität
und wurde eine B-6960-Nummer. Und ich endete am 3. Mai 1945 an Bord der ‚Cap
Arcona‘ und schließlich im kalten Wasser der Neustädter Bucht, mit den Wellen
kämpfend, nur halb bei Bewusstsein, halluzinierend, dass mein Leben nun zu Ende
geht“. Ergreifende Worte des Überlebenden Henryk Francuz, die viele Menschen,
Hinterbliebene oder Überlebende auf der Gedenkveranstaltung der „Cap
Arcona“-Katastrophe sichtlich berührten.
Vor 71 Jahren ereignete sich in der Bucht von Neustadt eine der weltgrößten
Schiffskatastrophen: Der Untergang der „Cap Arcona“. Am 3. Mai 1945 ließen 7.000
zusammengepferchte Menschen aus 24 Nationen bei einer Bombardierung der
KZ-Häftlingsflotte ihr Leben. Der Luxusdampfer und der Frachter „Thielbek“
wurden in vier Angriffswellen von Jagdbombern der britischen Luftwaffe
angegriffen und in Brand geschossen. Die Schiffe wurden zu schwimmenden
„Konzentrationslagern“.
„Die Bombardierung der „Cap Arcona“ und der „Thielbek“ war ein schrecklicher
Irrtum in den letzten Tagen des Krieges. Die Royal Air Force ging davon aus,
dass die Schiffe Wehrmachts- und SS-Soldaten nach Norwegen transportierten.
Hinweise, dass auf den Schiffen KZ-Häftlinge waren, erreichten die RAF-Piloten
nicht rechtzeitig“, bedauerte Marine-Attaché der britischen Botschaft Dan
Howard. An Bord befanden sich jedoch Gefangene aus dem Konzentrationslager
Neuengamme, die elendig verbrannten, ertranken oder erschossen wurden. Viele
konnten nicht einmal geborgen werden. Die Schiffbrüchigen wurden von den
britischen Flugzeugen mit Bordwaffen beschossen. Wirkungsvolle Rettungsmaßnahmen
liefen verspätet an. Nur ein geringer Teil der Häftlinge wurde von Booten
aufgenommen, die sich vorrangig um die Rettung von Marineangehörigen bemühten.
Aus anderen Booten schoss man auf die im Wasser um ihr Leben kämpfenden
Häftlinge.
Unverständnis, tiefe Trauer und Stille erfüllten die Gedenkfeier und
Kranzniederlegung auf dem Ehrenfriedhof. „Großbritannien bedauert dieses
Ereignis sehr. Das Leiden der KZ-Häftlinge war eine furchtbare, natürlich
unbeabsichtigte Folge der alliierten Bemühungen, Nazi-Deutschland zu besiegen.
Großbritannien hat damals alle möglichen Kriegsoperationen durchgeführt, um eine
der schlimmsten Gewaltherrschaften aller Zeiten zu besiegen“, erklärte Dan
Howard.
„Uns muss dieses grausame und menschenverachtende Geschehen Anlass und
Verpflichtung sein, aktiv gegen jegliche staatliche Unterdrückung, gegen
jegliche Missachtung der Menschenrechte und die illegitime Verfolgung und
Ausgrenzung von Mitmenschen anderer Nationalität, anderer Hautfarbe, anderen
Glaubens und anderer politischer Auffassung anzukämpfen“, so Bürgervorsteher
Sönke Sela.
„Als einer der 400 Glücklichen, die die Katastrophe überlebten, stehe ich
hier, um den Häftlingen meine Ehre zu erweisen, den Häftlingen zahlreicher
Nationen, die den Traum einer gerechten Welt teilten“, so Henryk Francuz, der
sich glücklich zeigte, von seiner Familie umgeben zu sein. „Lasst es nie wieder
geschehen. Wir sind es der Zukunft unserer Kinder und Enkel schuldig, dem
Wiederaufkommen von Hass, Diskriminierung und Antisemitismus entgegenzutreten“,
lautete die eindeutige Botschaft des Überlebenden an die zukünftigen
Generationen.
Auch Jean-Michel Gaussot, Präsident der Amicale Internationale KZ Neuengamme
(AIN) und Sohn eines bei der Bombardierung der Häftlingsschiffe umgekommenen
französischen Häftlings weiß, dass das Ereignis und das Gedenken einen festen
Platz in der Erinnerungskultur einnehmen muss: „Damit Menschen nie wieder andere
Menschen auf diese Weise behandeln, müssen die grausamen Ereignisse in unserem
Bewusstsein bleiben und es muss daran erinnert werden, welches Leid die Tausende
Opfer sowie die wenigen Hundert Überlebenden erdulden mussten“. (inu)