

Merkendorf. Behutsamer Wandel, geprägt von fachlicher
Kompetenz und liebevoller Betreuung - so könnte man die Entwicklung des
Karl-Schütze-Heims in Merkendorf auf den Punkt bringen. Am letzten Samstag
feierte die Einrichtung des Hamburger Lebenshilfe-Werkes ihr 50-jähriges
Bestehen. In Kombination mit dem alljährlichen Sommerfest erlebten Gäste,
Bewohner und Mitarbeiter einen Tag voller Freude und interessanter Geschichten
und Geschichte.
Viele Gäste staunten nicht schlecht über den Werdegang des Hauses und den
verschiedenen konzeptionellen Ansätzen in diesem halben Jahrhundert. Das Heim
für Menschen mit Behinderung war zum Beispiel in den Anfängen vom
anthroposophischen Gedankengut beseelt. Fernsehen und Radio waren tabu,
stattdessen gab es Morgen- und Abendsingen, Eurythmie und biologisch-dynamische
Landwirtschaft. In den 70er Jahren erhielt die Sonderpädagogik Einzug. Paare
konnten zusammenwohnen, es gab Fernseher und erste Werkstätten, in denen die
Bewohner arbeiteten. „Heute hat sich viel geändert. Inklusion und
Personenzentrierung sind nur zwei Begriffe. Wir machen diese Riesenschritte hier
immer mit“, sagte Einrichtungsleiterin Babett Ritzen im Gespräch mit dem
reporter.
Vom privaten Landsitz zum Karl-Schütze-Heim
Ursprung der Einrichtung ist ein Herrenhaus, das ab 1920 diversen Eigentümern
als Landsitz diente, bevor es ab 1937 als Erholungsheim von der Stiftung
„Hamburger Erholungsheim Merkendorf“ betrieben wurde. Im Zweiten Weltkrieg stand
das Haus dem Hamburger Landesjugendamt zur Verfügung. 50 evakuierte Kinder waren
darin untergebracht. Bei Kriegsende beschlagnahmte die britische Besatzungsmacht
das Heim, die Kinder aber blieben dort wohnen. 1946 ging das Heim wieder an die
Stiftung zurück und wurde Jugenderholungsheim der Stadt Hamburg, welche jedoch
1965 den Mietvertrag kündigte. Der damalige Vorsitzende der Hamburger
Lebenshilfe Dr. Karl Schütze eröffnete in dem freigewordenen Herrenhaus eine
Einrichtung für behinderte Kinder.
Prägend: Heimleitung und gesetzlicher Rahmen
Am 1. März 1966 wurde der Anthroposoph und Heilpädagoge Hubert Schnoor als
erster Heimleiter des Karl-Schütze-Heims eingestellt. Im Herbst 1967 kam Hermann
Michaelis, dessen Pädagogik von dem Gedankengut Rudolf Steiners geprägt war.
1976 trat der Diplom-Psychologe Nikolaus Müller die Nachfolge an und seit 2008
leitet Babett Ritzen die Einrichtung. Neben neuen pädagogischen Ansätzen
änderten sich auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen beständig. „Die Änderungen
in den letzten 50 Jahren basieren auf einen gravierenden Bewusstseinswandel in
der Gesellschaft gegenüber den Menschen mit Behinderung. Nach Kriegsende war
zunächst der Fürsorgegedanke maßgebend. Dann rückten die Bildung und die
Förderung der Selbstständigkeit in den Fokus. Und heute geht es darum, die
Bildung, die Arbeit und das Wohnen im Sinne von Inklusion zu entwickeln“,
erklärte Jürgen Wurst vom Aufsichtsrat des Hamburger Lebenshilfe-Werkes.
Wichtig – die Menschen: Mitarbeiter, Förderer, Nachbarn und
Bewohner
Dass die Geschichte des Karl-Schütze-Heims lebendig ist, machten am
Jubiläumstag viele Menschen deutlich. Zum Beispiel die Bewohner, von denen
einige schon viele Jahrzehnte in Merkendorf zuhause sind. „Ich lebe seit 47
Jahren im Karl-Schütze-Heim und fühle mich sehr wohl hier“, erzählte Jutta
Seehase. Als Mitglied des Bewohnerbeirates leiht sie all denjenigen eine Stimme,
die nicht für sich sprechen können. Vor Kurzem hat sich der Bewohnerbeirat auch
mit Bürgermeister Rainer Holtz getroffen, um gemeinsam die Notwendigkeit einer
Bedarfsampel an der Bushaltestelle in Merkendorf zu erörtern. „Das ist
Inklusion! Der Bewohnerbeirat ist ein ganz wichtiges Gremium“, betonte Babett
Ritzen. Wertschätzung erfuhren auch die 100 Mitarbeiter des Karl-Schütze-Heims:
„Ihre Arbeit ist etwas ganz Wertvolles und Bedeutendes für die Menschen, die
hier leben“, sagte Dr. Martin Schaedel. Auch die Nachbarschaft sei eine
wertvolle Unterstützung und der Förderverein des Karl-Schütze-Heims: „Wir sind
froh, dass wir den Förderverein an unserer Seite haben. Über viele Jahre hinweg
hat er Autos beschafft, Ferienreisen ermöglicht und Therapien finanziert“, so
Dr. Schaedel.
Karl-Schütze-Heim heute
Zurzeit bietet das Karl-Schütze-Heim in fünf Häusern 134 Wohnplätze für
erwachsene Menschen mit Behinderung. Besondere Ausstattungsmerkmale sind das
Bewegungsbad, der Entspannungsraum mit Musik-Wasserbett, der Sportraum sowie
viel Freiraum auf der idyllisch gelegenen Anlage. Ungefähr die Hälfte der
Bewohner arbeitet in einer Werkstatt für angepasste Arbeit. Die Assistenz der
Bewohner erfolgt unter dem Leitgedanken der Inklusion. „Die Bewohner sollen
Teilhabe erfahren und Selbstbestimmung erleben“, so Babett Ritzen. Besonders
freut sich die Einrichtungsleiterin über den guten Beziehungen im Dorf: „Die
Bewohner sind in der Dorfschänke Merkendorf gern gesehene Gäste und fühlen sich
dort pudelwohl. Auf dem benachbarten Reiterhof sind die Bewohner willkommen, man
trifft sich auf Spaziergängen durch das Dorf. Auch die Mehrzweckhalle wird durch
unsere Sportgruppen genutzt.“
Die Entwicklung geht weiter
Im Karl-Schütze-Heim soll auch in Zukunft auf die Bedürfnisse und Erwartungen
der Bewohner reagiert werden. Wichtige Maßnahme ist dabei die Schaffung
zusätzlicher Einzelzimmer. „Wir haben im Heim zurzeit noch zu viele
Doppelzimmer. Da ist es manchmal nicht so einfach, die Privatsphäre jedes
Einzelnen zu schützen. Da müssen wir ran!“, sagte Babett Ritzen. Die
Einrichtungsleiterin hat auch schon eine Idee, denn einige Bewohner würden
lieber in einer lebhafteren Umgebung leben und sind gerne in Neustadt. „Für
diese Menschen wäre es toll, wenn wir auch eine Wohnmöglichkeit in Neustadt
anbieten könnten. Wenn dann einige umziehen wollen, könnten wir hier in
Merkendorf die Doppelbelegung von Zimmern abbauen.“ Diese Idee soll nun erst
einmal mit dem Kreis und mit der Stadt Neustadt besprochen werden. Ritzen:
„Eines ist für die Mitarbeiterin jedenfalls klar: 50 Jahre Tradition sind kein
Ruhekissen. Wir werden kreativ bleiben und Neues ausprobieren, damit Menschen
mit Behinderungen noch besser selbstbestimmt am Leben in der Gemeinschaft
teilnehmen können.“ (he)