Mit Pferde-Stärke MS-Erkrankungen in Schach halten
Wittmoldt (los). Wie wirkt sich therapeutisches Reiten bei der Erkrankung Multiple Sklerose aus? Betroffene können dazu jetzt als Teilnehmer einer wissenschaftlichen Studie eigene Erfahrungen sammeln. Auch Sabine Henning war beim ersten Teil 2024 auf Gut Wittmoldt bereits mit dabei und schildert die Veränderungen bei ihrem Krankheitsbild.
Sabine Henning hatte vergangenes Jahr erstmals Kontakt mit Pferden. Etwas Überwindung war also dabei. Jetzt hat sie sich erneut angemeldet.
Ziel der Studie ist die mögliche Anerkennung der Hippotherapie durch die gesetzlichen Krankenkassen. Deshalb ruft das Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS) gGmbH am Institut der Deutschen Sporthochschule Köln Patienten mit Multipler Sklerose zu Teilnahme auf. Ausführungsort ist das Gut Wittmoldt im Zeitraum Mai bis Juli - Anmeldung bis 15. April telefonisch unter 04522 – 1263 oder per Email an info@gut-wittmoldt.de.
Bei der Hippotherapie haben Amélie und Rüdiger von Bülow-Sartory die Regie. Sie haben ihre Welsh Cob Pferde nicht nur selbst gezüchtet und aufgezogen, sondern auch als Therapiepferde selbst ausgebildet. Und so ist auch „Fidel“ mit Auge und Ohr ganz auf Rüdiger Sartory konzentriert, der hinter ihm geht und über die langen Zügel den Kontakt hält. Unabhängig davon, was mit Sabine Henning auf seinem Rücken geschieht, vertraut das Tier der Stimme von hinten und reagiert auf kleinste Signale.
Der 18-jährige Wallach ist bereits seit zehn Jahren im Dienst. Lob motiviert ihn bei der Arbeit. Und dass er gern mitmacht, ist wichtig und nicht selbstverständlich: Denn permanent fühlt das Pferd Gewichts- und Schwerpunktverlagerungen, etwa
wenn die Reiterin ihren Oberkörper bei einer der Übungen weit nach vorne lehnt. Jede Veränderung muss das Tier sofort ausgleichen – und zwar ohne Beeinträchtigung seiner gleichmäßigen Bewegung im schreitenden Viertakt. Entspanntes Abschnauben zeigt jedoch: Das Pferd fühlt sich wohl. Alles ist gut.
„Die Tiere mögen ja auch gerne beschäftigt werden“, erklärt Amélie von Bülow-Sartory. Dass sie es gut und richtig machen, erleben die Tiere als positives Feedback. Das wirkt sich auch auf die Reiterin aus: „Man spürt, dass es das mag“, sagt Sabine Henning. Denn die Körpersprache des Pferdes verrät seine gute Stimmung deutlich.
Umgekehrt hat dieses Erleben auch auf die Reiterin Einfluss. Dazu zählt ihre Wahrnehmung des Pferdes, des warmen Fells, der Bewegung, des Ohrenspiels. Diese emotionale Stärkung hat einen besonderen Effekt, der Mensch und Pferd gleichermaßen anspricht: „Das ist ja das Tolle dabei, dass das Therapeutische Reiten in beide Richtungen wirkt“, verdeutlicht Amélie von Bülow-Sartory.
Für Sabine Henning eröffnet erst ein solches vertrauensvolles Zusammenspiel die Chance, auf dem Pferderücken Übungen durchführen zu können. Physio- und Bewegunstherapeutin Amélie von Bülow-Sartory sichert, instruiert und begleitet sie bei jedem Schritt des Pferdes.
Schon der Sitz sorge für eine Dehnung von Hüftgelenk und Beckenboden, erkärt Amélie von Bülow. Jeder Schritt des Pferdes: ein Impuls auf die Körpermitte des Reiters. Hüfte und Becken müssen sich der vorwärtsschwingenden Bewegung anpassen und mitgehen. Dadurch würden auch die inneren Organe beeinflusst. Und das umso mehr, als das Pferd in ständigen Wendungen durch die Halle gelenkt wird.
Das bedeutet für Gleichgewicht, Körpermitte und Schwerpunkt des Reiters permanente Beeinflussung. Gerade dabei „springen die Muskeln an“, sagt sie. Denn diese müssen im Bewegungsfluss alles ausgleichen. „Reiten mobilisiert und stabilisiert gleichzeitig.“
Zudem wirkt die Stimulation auf alle anderen Bereiche des Körpers. Das habe sich bei ihrem Gangbild positiv bemerkbar gemacht, hat Sabine Henning festgestellt: „Vorher habe ich stark geschwankt und einen Fuß bei jedem Schritt nach vorne geschleudert“, schildert sie. Durch das therapeutische Reiten sei es ihr aber gelungen, wieder sicher geradeaus zu laufen. „Ich konnte sogar wieder freihändig die Treppe hochgehen.“ Für sie ist das ein emotionales Schlüsselerlebnis: „Ich konnte es kaum glauben.“ Und diesen Erfolg habe sie bereits nach sechs Therapieeinheiten verbuchen können.
Multiple Sklerose löst komplexe Symptome aus. „Ich dachte zuerst, ich hätte einen Bandscheibenvorfall“, erzählt Sabine Henning. Ihre Diagnose wurde 2018 gestellt, aber Verdachtsmomente habe es schon 2012 gegeben. Auffällig war ein „unsicherer Gang, wie nach einem Schlaganfall“ gewesen. Auch das Abrollen des Fußballens blieb dabei aus. Zudem verursachte die Muskelschwäche eine „Blasenentleerungsstörung“, bei der das Zusammenspiel der Muskeln des Organs nicht mehr richtig funktioniert, und ein Entleeren erschwert ist.
Da aber die Muskulatur durch die Pferdebewegung angesprochen und der Bereich der Blase geweitet wird, beginnt dieses System wieder zu funktionieren. „Schon nach dem dritten Mal machte sich eine Verbesserung bemerkbar“, blickt Sabine Henning zurück.
Auch das Gefühl in den Extremitäten habe sich positiv verändert. Denn fehlende Sensibilität führte wiederholt zu Verletzungen, zumal sie zuhause gerne barfuß laufe. „Ich gehe die Treppe hoch, ohne zu schwanken, lasse seltener Dinge fallen und ecke weniger an“, fasst Sabine Henning zusammen. So habe sie durch die Reittherapie deutlich an Lebensqualität gewonnen. Doch es ist mehr als der spürbare Effekt der Übungen. Denn auch auf die Stimmung haben die Pferde einen bemerkenswert motivierenden Einfluss, hat Sabine Hennings bei sich festgestellt. „Für mich war es eine wahnsinnige Bereicherung, mit einem so großen Tier zu tun zu haben.“