Wenn Theater unter die Haut geht
Süsel (aj). Manchmal passt eine lebensverändernde Wahrheit auf einen DIN A4-Bogen und ein Satz bringt Gefängnismauern und Lebensgerüst einer ganzen Gemeinde zum Einstürzen. Diese Situation hat Stephan Greve zum Ausgangspunkt seines Theaterstückes „Twee Bröder“ gemacht.
Eine Zeitungsmeldung über einen zu Unrecht Verurteilten, der erst nach Jahren durch einen DNA-Test rehabilitiert und aus dem Gefängnis entlassen wurde, ließ ihn nicht mehr los: „Welche Katastrophen dahinterstecken, was es heißt, nach so einer Entlassung bei Null anzufangen, das wollte ich ausarbeiten“, erzählt der Theater-Autor.
In der aktuellen Süseler Inszenierung führt er nicht nur Regie, sondern steht auch selbst auf der Bühne. Er spielt Henrik Schloth, einen der beiden Brüder, die – der Titel sagt es – im Fokus des Geschehens stehen. Greve gibt ihn als gemachten Mann, als einen, der alles im Griff hat und mit freundlicher Bestimmtheit Menschen dazu bringt zu tun, was er möchte. Seine Motivation? Der eigene, materielle Vorteil und die Lust an der eigenen Überlegenheit.
An seiner Seite steht, man ahnt es fast, eine kluge, schöne Frau, eine Paraderolle für Brigitte Barmwater. Sie stattet ihre Figur mit einem genauen Gespür für ungute Konstellationen aus. Ihre Agnes Schloth ist ein lebensfroher, offener Mensch, nach fünf Jahren Ehe noch sehr verliebt in ihren Henrik und deshalb bereit, auch Zumutungen hinzunehmen. Und das fällt ihr umso leichter, wenn es sich am Ende auch für sie auszahlt. Der Besuch des Bürgermeisters Georg Tiege entpuppt sich als eine solche Zumutung. Eigentlich hatte Detlev Storm diese Rolle übernommen. Als er krankheitsbedingt absagen musste, sprang Günter Lüdtke ein und machte sich diesen unangenehmen Börgermeester ganz zu eigen. Dass der nicht weiß, wie man sich am Tisch benimmt - geschenkt. Dass er aber ein Grapscher ist und Agnes belästigt, dass er seine Frau beleidigt und bloßstellt, lässt nicht nur auf der Bühne die Stimmung umschlagen.
Inge Schlüter spielt die Ehefrau des Grobians als vordergründig duldsame Person, die sich längst in ihre Rolle gefügt hat und die Übergriffe des Grobians, hinnimmt, offensichtlich bemüht, Schlimmeres zu verhindern und keinen Anlass für Ausbrüche zu liefern. Was als gemütlicher Abend begonnen hat, wird mehr und mehr zu einem unbehaglichen Kammerspiel. Nicht nur für Agnes Schloth und Sabine Tiege ziehen die Schultern hoch, auch das Publikum rutscht tiefer und tiefer in die Sessel. Gutgelaunt ist hier nur einer: Henrik Schloth, der dem Bürgermeister die Unterschrift für ein lukratives Geschäft abgegaunert hat. Er hat das Schriftstück, das er mit diesem Pärchenabend einheimsen wollte. Und dann steht sein Bruder vor der Tür und von einem Moment auf den nächsten ist Henrik nicht mehr derselbe. Jörn Hilbrecht legt als Wolfgang Schloth einen Auftritt hin, der unter die Haut geht. Ein gebrochener Mensch, der doch noch nicht fertig ist mit der Welt. Fast wortlos sprengt er die Situation des geselligen Abends, sein bloßes Erscheinen, das ist sofort klar, bringt zum Vorschein, was lange verschüttet war. Ein Verbrechen ist vor 18 Jahren in der Gemeinde geschehen, eine junge Frau wurde vergewaltigt und ermordet. Wolfgang Schloth wurde dafür verurteilt, obgleich er stets seine Unschuld beteuert hat. Die Zeit, die sich wie Ketten um ihn gelegt hat, bringt auch neue Verfahren wie die DNA-Analyse. Und plötzlich stellt sich eine Frage, die lang beantwortet schien, neu, und frei ist hier niemand mehr.
Es braucht viel Erfahrung und das Wissen um das Spiel der anderen, um diese unheilvolle Schwebe ganz auszuspielen. Zwischen den fünf Darstellerinnen und Darstellern stimmen jeder vielsagende Blick und jedes Wegsehen. Die Dialoge sind so präzise getimt wie die Wortlosigkeit. Gespielt wird mit Haut und Haar oder wie Stephan Greve sagt: „Wenn ich auf der Bühne stehe, lasse ich die Zügel los, dann bin ich nicht mehr der Stephan, sondern Henrik.“ Brigitte Barmwater nickt: „Es gibt nur noch diesen Raum.“ Es sei Zeit für ein ernstes Stück gewesen. Barmwater kannte „Twee Bröder“ von einem Workshop auf dem Scheersberg: „Da wurde eine Szene gespielt, das war so ergreifend, ich habe es nie vergessen“, erinnert sie sich. Beim Lesen des Textbuchs hat sie geweint und Tränen fließen auch auf der Bühne: „Es ist fast eine Tragödie“, meint Jörn Hilbrecht ruhig.
Die Emotionen zuzulassen, ist Vertrauenssache. Wer sich fallen lässt, muss sicher sein, aufgefangen zu werden. Dann kann es passieren, dass man sich selbst neu kennenlernt. Inge Schlüter hat in Vorbereitung auf die Rolle auf einen Boxsack eingedroschen - um die untergründige Wut ihrer Bürgermeisterfrau zu fühlen.
Als Souffleuse ist Kirstin Schumacher ganz nah dran, sie hat die Entwicklung aller Figuren miterlebt: „Es steigert sich von Mal zu Mal und ich bin wirklich kaputt hinterher“, sagt sie.
Tief berührt dürfte auch das Publikum sein, wenn sich der Vorhang schließt. Das Nachdenken ist damit nicht abgeschlossen. Was kann man Besseres über einen Theaterabend sagen?
Karten gibt es im Vorverkauf unter Telefon 04524-13 79 montags von 18 bis 20 Uhr und mittwochs von 9 bis 12 Uhr, im Foyer des Theaters donnerstags von 17 bis 18 Uhr, per E-Mail an tickets@theater-suesel.de, online unter www.theater-suesel.de und bei allen bekannten Vorverkaufsstellen, zum Beispiel in der Tourist Info Eutin.