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E-Bikes auf der Überholspur Chancen und Risiken der individuellen Elektro-Mobilität

Ostholstein/Kreis Plön (mm). Offizielle Zahlen sind zwar noch nicht raus. Doch klar ist, dass im vergangenen Jahr erstmals mehr Fahrräder mit Elektromotor verkauft wurden als ohne. E-Bikes radeln auf der Überholspur. Kein Wunder: Ohne Wenn und Aber genießen sie dieselben Vorrechte im Straßenverkehr wie Fahrräder mit Bio-Antrieb. Mit Motor ist man nicht nur schneller unterwegs, sondern auch komfortabler. Doch geht das flotte Tempo womöglich zu Lasten der Sicherheit?
Zunächst ein Blick hinter die Kulissen. Seit Jahren bereits ist die Fahrradbranche mit viel Rückenwind unterwegs. Das machen Zahlen des Zweirad-Industrieverbandes (ZIV) deutlich. Eigenen Angaben zufolge hat sich der Branchenumsatz seit 2012 fast vervierfacht, 2022 waren es bereits mehr als 7 Milliarden Euro. „Treiber dieser Entwicklung ist ganz klar das E-Bike“, sagt ZIV-Pressesprecher Reiner Kolberg. Wurden 2014 erst 480.000 Fahrräder mit Motor verkauft, schnellte diese Zahl in der Vergangenheit stetig nach oben, erreichte 2022 gar die Rekordmarke von 2,2 Millionen.

Die Kehrseite der Medaille macht ein Blick in die Zahlen des Statistischen Bundesamtes deutlich. Während die Polizei 2014 nur rund 2.000 „Pedelec“ - Unfälle mit Personenschaden meldete, waren es 2021 bereits mehr als 17.000. Besonders auffällig: „Pedelecunfälle enden häufiger tödlich als Unfälle mit Fahrrädern ohne Motor“, so die Wiesbadener Bundesbehörde im Sommer 2022.
Schon viel früher, 2014, hatte die Unfallforschung des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (UDV) die Risiken von „E-Bikes“ untersucht. Ausgerechnet in dem Jahr, von dem an Unfälle von Fahrrädern mit und ohne Motor getrennt erfasst werden. „Der Vergleich von Fahrrädern mit Elektrofahrrädern zeigt, dass diese per se keinem erhöhten oder anders gelagerten Sicherheitsrisiko als Fahrräder unterliegen“, hieß es zunächst. Doch nur ein Jahr später drehte der Wind. Die Unfallforscher der UDV ergründeten, wie Autofahrer die Geschwindigkeit von Zweiradfahrern wahrnehmen. Autofahrer biegen vor einem Pedelecfahrer „systematisch knapper ab“ als vor einem herkömmlichen Fahrradfahrer, stellten sie fest.
Offenbar bewerten Autofahrer die Trittfrequenz von Radfahrern als Maß für deren Geschwindigkeit. Will heißen: Weil Elektrofahrräder in der Regel langsamer pedaliert werden, wird deren Tempo vielfach unterschätzt. Folge: „Abbiegeentscheidungen von Autofahrern sind tendenziell riskanter“.

Geht also der Vorteil von Elektromotoren im Fahrrad womöglich zu Lasten der Sicherheit? Die Frage scheint tabu, als ob die Überholspur unbedingt freigehalten werden soll für E-Bikes. Mehr Komfort, höheres Tempo, kein Strampeln, kein Schwitzen, zudem weniger Autos auf der Straße. Drückend überlegen wirken die Vorteile. Im Konzert der Lobeshymnen sind daher kritische Stimmen zur zweiradelnden Elektromobilität kaum zu hören. Doch es gibt sie, wollen die Sicherheit von E-Bikes erhöhen, etwa durch Einführung einer Helmpflicht, besondere Kennzeichnung oder verbindliche Fahrprüfung.
Kurzer Ausflug zu einem besonders brisanten Thema, dem so genannten „Chip-Tuning“. Damit lässt sich die Drosselung des elektrischen Antriebs austricksen. Die hierfür benötigten Chips sind frei verkäuflich, kosten meist weniger als 150 Euro. YouTube-Videos erklären, wie die Teile eingebaut werden. Das Ganze ist zwar illegal. Doch wegen der entfesselten 250 Watt Motorleistung kommen diese Radler noch schneller voran als mit den ohnehin schon flotten 25 Stundenkilometern, die gesetzlich erlaubt sind. Wie viele es sind, die mit manipulierten E-Bikes unterwegs sind, da sind sich sämtliche Vertreter der Branche einig. „Wir wissen es nicht“, hört man unisono. Möglicherweise will es auch niemand wissen. Nach Schätzwerten gefragt, sind die Zahlen sehr vage. Sie reichen von 10 bis 40 Prozent. Doch was sagen Fachleute aus der Region?

„Tatsächlich kommen Nachfragen, ob wir E-Bikes tunen können“, berichtet etwa Max Pansegrau. „Doch das lehnen wir kategorisch ab“. Weil es verboten und gefährlich sei, erläutert der Mann vom Heikendorfer Radladen Freilauf. Leider erkenne man nicht immer, ob ein Rad schneller gemacht wurde. „Doch wenn wir das merken, dann lehnen wir sogar eine Inspektion ab“, stellt er klar. Als häufigste Ursache für Unfälle mit Elektrofahrrädern sieht Pansegrau die Selbstüberschätzung. „Man merkt nicht, dass ein E-Bike mehr Kontrolle erfordert“. Eine angepasste Fahrweise sei gefragt. „Mit einem Porsche heizt man ja auch nicht mit Tempo 100 durch den Ort“.
Und wie wäre es mit Helmpflicht? Die würde Sinn machen, meint Pansegrau. Seinen Kunden empfiehlt er daher, beim Radfahren stets einen Helm zu tragen. „Eine Helmpflicht dagegen könnte Leute wieder vom Rad wegbringen“, räumt er ein, präsentiert aber eine Lösung. Für alle, die keinen Helm tragen wollten, gebe es sogenannte Airbags. „Die sind zudem noch viel sicherer als ein normaler Fahrradhelm“, erklärt Pansegrau. Die Sicherheit ließe sich aber auch erhöhen, wenn mehr Räder auf der Fahrbahn fahren könnten, weil sie dann nicht von parkenden Autos verdeckt seien. „Bei der Infrastruktur ist jetzt die Politik gefragt, die dem Fahrrad-Boom hinterherkommen muss“, sagt er.
Das sieht auch Thorben Prenzel so. Er ist Verkehrsexperte bei der kommunalen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs in Schleswig-Holstein (RAD.SH) in Kiel. „Die statistisch erfassten Unfälle werden überwiegend von Autofahrern verursacht“, stellt er klar. Völlig unklar dagegen sei die Lage bei den Unfällen, die statistisch nicht erfasst würden. „Hier bewegt sich die Dunkelziffer zwischen 80 und 90 Prozent“, betont er. Daher sei es fraglich, ob E-Bikes in Sachen Unfallrisiko grundsätzlich anders zu betrachten seien als „Bio-Fahrräder“. Fakt dagegen sei, dass es inzwischen erheblich mehr Unfälle gebe mit E-Bikes, doch weil man über die viel zu wenig wisse, böten die vorhandenen Zahlen vor allem Raum für „gefühlte Wahrheiten“. Das Problem: Es sind viel mehr E-Bikes unterwegs als noch vor einigen Jahren. Doch niemand kann sagen, wieviel Kilometer damit tatsächlich gefahren werden. „Aber genau das müsste man wissen, um die gestiegenen Unfallzahlen bewerten zu können“, betont der Mann, der Städte und Gemeinden bei der Verkehrsplanung berät.

Auch in puncto Helmpflicht bekräftigt Prenzel, was Fahrradhändler Pansegrau ebenfalls vermutet: „In Australien hat sich die Zahl der Radfahrer halbiert, nachdem die Helmpflicht eingeführt wurde“. Bestätigen kann er auch die Erkenntnis des UDV. „Die Geschwindigkeit von E-Bikes wird tatsächlich häufig unterschätzt“, sagt er und gibt eine weitere Besonderheit zu denken. „Neben der deutlich geringeren Trittfrequenz, die zu Fehleinschätzungen verleiten kann, kommt hinzu, dass die meisten E-Biker ziemlich aufrecht fahren. Denn auch eine komfortable Sitzhaltung verknüpfen viele Autofahrer mit einer langsameren Fahrweise, was zu riskanteren Abbiegemanövern führen kann“. Eine Ausbildungspflicht hält Prenzel dagegen nicht für sinnvoll. „Besser wäre es, Kunden beim Kauf eines E-Bikes zu empfehlen, sich zunächst ohne Motorleistung mit dem Rad vertraut zu machen. Denn die weitaus meisten Unfälle passieren beim Auf- und Absteigen, und die werden statistisch nicht erfasst, weil sie der Polizei nicht gemeldet werden“.
Die gemeldeten Unfälle hat die Polizeidirektion Kiel fest im Blick. Ihrem Verkehrssicherheitsbericht zufolge sank im Kreis Plön die Zahl aller gemeldeten Fahrradunfälle von 148 (2021) auf 133 (2022). In ähnlichem Verhältnis ging auch der Anteil der Unfälle runter, bei denen Pedelecs beteiligt waren, von 59 auf 51. Völlig anders die Zahlen aus der Stadt Kiel, wo die Zahl aller gemeldeten Fahrradunfälle um rund 20 Prozent stiegen, von 457 auf 535. Besonders auffällig: ein steiler Zuwachs bei Unfällen mit Pedelec-Beteiligung. Nach 146 im vorigen Jahr gegenüber 82 im Jahr 2021 ergibt sich ein satter Anstieg um 78 Prozent, und markiert damit nur einen vorläufigen Rekord. „Schon seit Beginn der Erfassung im Jahr 2014 verzeichnen wir hier in Kiel stetig stark ansteigende Fallzahlen“, unterstreicht Polizeihauptkommissar Sven Petersen. „Tendenziell wird das Pedelec im Kreis Plön eher freizeitmäßig genutzt“, erläutert der Leiter des Sachgebiets Verkehr den auffälligen Unterschied zwischen Stadt und Land. Es gebe allerdings bislang keine Zahlen darüber, ob ein Pedelec, das bei einem Unfall beteiligt war, „getunt“ gewesen sei. „Wir wissen noch nicht, was da los ist, weil es statistisch nicht erfasst wird.“ Politisch werde das „Tuning“ noch nicht als Problem betrachtet. „Wir werden das aber dann zu einem Thema machen, wenn wir künftig noch mehr Unfälle mit Pedelecs feststellen. Ich glaube auch, dass das eher ein Phänomen der jüngeren Fahrer ist“, meint er.
In Sachen Helmpflicht für Pedelec-Fahrer ist auch Petersen skeptisch. „Es ist fraglich, ob das was bringen würde. Zumal die Vorschrift auch durchgesetzt werden müsste“. Bei der Frage nach Ursachen von Unfällen teilt auch der Polizist aus Kiel die Erklärungsversuche des UDV. „Wir haben viele Abbiege-Unfälle“, sagt er. Es gebe zwar keinen Beweis, doch deren Überlegungen seien aus polizeilicher Erfahrung plausibel. „Man kann sich das ja auch leicht vorstellen. Ein Pedelec fährt in einer Sekunde 7 Meter“, rechnet der Mann vom Polizeipräsidium vor.

Doch das Hauptproblem sieht er nicht darin, dass immer mehr Pedelecs unterwegs seien, sondern in der Verkehrsführung. Mit dieser Einschätzung stößt er ins gleiche Horn wie Pansegrau und Prenzel. „Die sollte selbsterklärend und eindeutig sein“, betont er. Wegen oft wechselnder Gestaltung der Wege, sowie vielfältiger Sonder- und Ausnahmeregeln sei die Verkehrsführung vor allem in Kiel an manchen Stellen sowohl für Radfahrer als auch für die Polizei zuweilen schwierig zu überblicken. Auch Petersen wünscht sich daher von den Verkehrsplanern, vermehrt Fahrräder auf die Straße zu holen. „Da ist die Sichtbarkeit besser. Egal, ob jemand mit oder ohne Motor unterwegs ist“, sagt er.

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